Joseph O’Neill: Niederland

222Zu den – (je nach Perspektive) zahlreichen oder spärlichen – Gemeinsamkeiten zwischen der deutschen und amerikanischen Gegenwartskultur zählt wohl das komplette Scheitern aller Versuche, Cricket irgendwo nahe der Gesellschaftsmitte zu etablieren. Zwar gibt es auch hier schon seit über 130 Jahren Cricket-Enthusiasten, doch sind diese bis heute Randgruppe geblieben. Und ebenso ergeht es ihnen in den Vereinigten Staaten.

Letzteres möchte Chuck Ramkissoon, der aus Trinidad stammt und zu einem begeisterten Amerikaner geworden ist, mit viel Leidenschaft, einem vorgeblich wasserdichten Plan und dem unerschütterlichen Glauben an den “American Dream“ (ein zentrales Thema des Buches, von dessen Hauptfiguren keine in Nordamerika geboren wurde) ändern. Denn der eloquente und einfallsreiche Neu-Amerikaner, der eigentlich Khamraj heißt, ist davon überzeugt, dass dieser Sport sein Land retten kann. Hans van den Broek, ein in Holland geborener und über London ebenfalls nach New York gekommener Börsenanalyst, soll ihm dabei helfen. Gleichzeitig ist er der Erzähler dieses Buches. (Was nicht die einzige Reminiszenz zu “Der große Gatsby“ bleiben wird.)
Für Hans könnte dieses Projekt eine Möglichkeit sein, ihm durch eine Lebenskrise zu helfen. Seine Frau ist mit dem kleinen Sohn zurück nach London gegangen und er fühlt sich entfremdet – sich selbst, seiner Familie und seiner Identität. Dazu passend lebt er in einem Hotel (in das er nach 9/11 mit seiner Familie ziehen musste, das sie aber auch dann nicht wieder verließen, als die Behörden eine Rückkehr in das ursprüngliche Familiendomizil wieder erlaubt hatten), zu deren anderen, teils herrlich skurrilen Bewohnern er keinen wirklichen Kontakt findet.
Der ihm seit seiner Jugend vertraute Sport gibt seinem geschrumpften Leben Struktur und Wurzeln zurück. In der New Yorker Cricket-Subkultur, die für ihn bald zu seiner ungewöhnlichen Freundschaft mit Chuck gehört, entdeckt er zunächst Ablenkung, dann auch Läuterung von Entfremdung und Bedeutungslosigkeit.

Mit leichter Hand und zuweilen poetischer Sprache zeichnet Joseph O’Neill ein feinfühliges Bild dieser Exilanten. Nie bekommt die Lektüre den Geschmack des Voraussehbaren, obwohl man vom eigentlichen Ende der Geschichte bereits auf den ersten Seiten erfährt. Über Rückblenden erliest man sich den Weg zu diesem Ende. Unangestrengt streift O’Neill dabei viele klassische Themen dieser Zeit: Weltbürger und deren Entwurzelung, bröckelnde (Mittelstands-)Familien, Rassismus, Männerfreundschaften, vaterlose Kinder…
Und auch die Schilderungen des (aus der deutschen Cricket-Ferne gesehen:) merkwürdigen Sports sind durchaus unterhaltsam und bieten nebenbei eine spannende Fülle an Interpretationsstoff – denn ist nicht ein Sport immer mehr als ein Sport?

Beim Cricket schwingt eine ordentliche Portion Nostalgie mit. Und der Grundsatz von Fair Play. Das Spiel und seine Regeln bieten Ordnung und Moral in Zeiten, in denen beides auf der Strecke zu bleiben droht. Und Cricket ist auch ein kulturgeschichtliches Phänomen, das sich eignet, einfache Kategorien (gut/böse, arm/reich, schwarz/weiß) auch mal einzuschmelzen. Denn wenn Hans feststellt, der einzige Weiße in der New Yorker Gemeinschaft von Cricket-Spielern und mitten unter ihnen eine Art “Farbiger ehrenhalber“ zu werden, dann ist das ein wunderbarer Indikator des viel beschworenen “melting pots“. Zugleich schwebt aber ein maßgeblicher Unterschied zu den anderen über dem Team: er als Holländer ist durch seine Vorfahren per Geschichte mit den Kolonialisten (und auch mit den Gründern der Stadt) verbunden, während seine (meist) westindischen Sportkameraden auf der anderen, der (noch immer nicht komplett überwundenen) “Verliererseite“ stehen (Hans ist hochbezahlter Banker, während Umar, der ihn zum Staten Island Cricket Club bringt, als Taxi-Fahrer arbeitet), auf Seiten derer, deren Vorfahren das Spiel von fremden Eroberern aufgezwungen wurde (um ihnen “Ordnung und Zivilisation“ beizubringen; später wurde das Spiel allerdings wiederum auch als Weg zur Emanzipation von den britischen Imperialisten betrieben). Auf dem Boden einer weiteren ehemaligen britischen Kolonie kommen die beiden Seiten nun also nur scheinbar frei von ihren „historischen Rucksäcken“ wieder zusammen. Aber es eint sie ein Gedanke: Wenn die Amerikaner nicht einmal die Regeln dieses Spiels verstehen, wie können sie dann die Komplexität der (nicht-amerikanischen) Welt begreifen? Und im Grunde machen sie sich alle das Spiel einer (ursprünglich) fremden Kultur zu eigen, indem sie das ur-britische Cricket auf zu kleinen und schlecht präparierten New Yorker Rasenflächen spielen.

Die Darstellung dieses bunten New Yorks gerät schnell zur Liebeserklärung an die Welthauptstadt. Allen Widrigkeiten zum Trotz bleibt es die Stadt, die verheißt, dass hier Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft Freunde werden können, die Stadt, in der Exilanten die Erfüllung großer Träume angehen, ohne sich von einem möglichen Scheitern beeindrucken zu lassen. Und in der jede/r den reinigenden Weg zurück zu sich selbst finden kann.
Und vielleicht gibt der Roman (für den der Autor, nebenbei bemerkt, gerade erst den PEN/Faulkner-Award bekommen hat) an einem Punkt des bedrohlichen Taumelns der amerikanischen Wirtschaft neue Hoffnung. Zuversicht für einen frischen Neustart mit Hilfe der Besinnung auf Werte jenseits des Geldes. Und daran mag man auch in Deutschland gern glauben.

dazu hören: Rufus Wainwright singt „chelsea hotel“

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