Juli Zeh: „Neujahr“

Eigentlich wollte Juli Zeh ihren neuen Roman „Horror“ nennen. Der Verlag sprach sich dagegen aus, zum Glück, wie ich finde, denn das hätte in die falsche Richtung geführt.

Worum geht’s? Um nicht mehr und nicht weniger als den ganz normalen Wahnsinn: Henning und Theresa bemühen sich, eine Beziehung auf Augenhöhe zu führen und sich zu gleichen Anteilen in die Familie (+ zwei Kinder) einzubringen. Doch das Familienkonto wird ungleich belastet: Theresa ist die Hauptverdienerin und schafft das Geld ran. Henning arbeitet auch, aber „nur“ 30 Stunden, daneben kümmert er sich hauptsächlich um die Kinder, den Einkauf, Haushalt, all das, was er glaubt, leisten zu müssen, damit das Konto wieder ausgeglichen wird. Weiterlesen

Anne Reinecke: Leinsee

Nun, das mag vielleicht etwas übertrieben sein, denn das Buchjahr 2018 hat ja gerade erst angefangen, da werden wir also noch vieles zu lesen bekommen. Aber ich bin mir sicher, dass Anne Reinecke mit ihrem Debüt „Leinsee“ mindestens auf der Best of Liste auftauchen wird!

Liebesgeschichte? Ja, nicht vordergründig, aber das ist das Einnehmende an dieser Geschichte. Karl, ein junger Berliner Künstler, gerade mal 26 Jahre alt, erfährt von dem Suizid des Vaters, während die Mutter auf dem Operationstisch liegt. Auch bei ihr geht es um Leben oder Tod.

Zu seinen Eltern hat er seit einigen Jahren keinen Kontakt mehr. Er macht sich auf den Weg nach Leinsee, seiner „Heimat“, die für ihn nie etwas Heimeliges hatte.

Zwischen Schmerz, Wut, Trauer und Sehnsucht nach der Liebe der Mutter tritt ein kleines Mädchen auf die Bühne: Tanja. Als sie das erste Mal im Garten auftaucht, ist sie vielleicht fünf Jahre alt. Die Beiden werden Freunde. Nicht so, wie wir uns das ausmalen würden, sondern anders – auf einer „spirituellen“ Ebene. Die Kleine wird für Karl zum Anker, zum Lichtblick, zur Hoffnung. Weiterlesen

Heinrich Böll: Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind

Am 21. Dezember 2017 wäre Heinrich Böll 100 Jahre alt geworden. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch ehrt den Autor mit einer besonderen Ausgabe seiner Kriegstagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1943 bis 1945. Der Titel: „Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind“.

Wir sind am Stand von KiWi auf der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt. Stolz zeigt man uns die Neuerscheinungen, darunter ein, wie es aussieht, kleines Notizbuch: schwarzer Einband, Leseband, abgerundete Ecken. Aber es ist kein Notizbuch. Oder doch! Aber ein bereits beschriebenes – mit handschriftlichen Aufzeichnungen von Heinrich Böll aus den Jahren Oktober 1943 bis September 1945.

Der damals 26-Jährige ist bereits vier Jahre Soldat. Wie groß das Leid des jungen Bölls ist, wird bereits beim flüchtigen Reinblättern sofort vorstellbar: Böll listet Tote auf, Verwundete, dokumentiert alltägliches Kriegsgeschehen:

Weiterlesen

Benjamin von Stuckrad-Barre: Ich glaub, mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen

„ … wenn du anfängst, zu Hause zu kochen, dann haben sie dich.“</em>
B. v. Stuckrad-Barre in „Panikherz“

Lieber Herr von Stuckrad-Barre!

Vor mir liegt Ihr neues Buch „Ich glaube, mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen.“ Gratulation zu diesem gelungenen Titel! Ich höre diesen Satz sehr oft, deshalb musste ich schmunzeln, als ich ihn das erste Mal las. Und! Dadurch, dass er mir so vertraut ist, kann ich mir den bestens merken. (Ich kenne nur wenige Bücher, bei denen so viele Wörter den Titel ausmachen … Moritz von Uslars „Waldstein“ und noch ein Buch von Antonia Baum fallen mir da gerade mal ein, aber ich bin auch nicht soooo belesen.) Weiterlesen

Judith Zander: Dinge, die wir heute sagten

Meine Liebe!
Ich weiß, du kommst zurzeit sicherlich nicht zum Lesen, ABER: wenn doch, dann hol dir doch mal: Dinge, die wir heute sagten von Judith Zander. Meine Güte, die ist gerade mal 30 Jahre alt und schreibt schon wie Uwe Johnson. Hut ab! Jedenfalls empfehle ich dir das deshalb, weil dieses Buch ein hohes Identifikationspotential hat, zumindest, wenn man vom Dorf kommt, so wie ich, aber Stralsund ist ja auch fast Dorf, ne, nich … Lange Rede, kurzer Sinn: schön mit Platt und dieser ganzen vorpommerschen Beklopptheit, mit der bäurischen Stumpfheit, die aber unter der Decke so verschlagen ist … Man denkt, man lebt noch einmal. Ehrlich.

Liebe Grüße von mir
PS: Sie steht mit diesem Roman übrigens auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2010 und ist damit unter den letzten 6! Finalisten.

Sensationell! Roberto Bolaños 2666

Eigentlich habe ich Bolaño nur in die Finger bekommen, weil ich vor einigen Monaten einen Artikel der SZ über den, wenn auch äußerst übersichtlichen verlegerischen Mut in Deutschland gelesen habe. Der eine betraf David Foster Wallaces „Unendlicher Spass“ und der andere Roberto Bolaños „2666“.

Dass mir Bolaño zuerst zufiel, war reiner Zufall. Dass es mich interessierte, dagegen nicht. Ein Werk von mehr als 1000 Seiten von einem chilenischen Autor, der mittlerweile verstorben (an Hepatitis!), Marquez und überhaupt alle chilenischen Blumen der Literatur nicht mochte (ich dagegen sehr) und dessen «infrarealistische Manifest» seine Anhänger weniger dazu verpflichtet, ästhetischen Prinzipien zu folgen, als zu reisen und sich kompromisslos der «Infrarealität» zu stellen: Alkoholexzesse in Unterweltsspelunken, sexuelle Eskapaden auf dünner Matratze, klamme Tagesanbrüche ohne Aussicht auf ein anständiges Frühstück. Und die Bereitschaft, notfalls für die Dichtung zu sterben.“ Sandro Benini in Das Magazin

Die erste Frage, die mich schon während der Rezeption beschäftigte, war:
Wer schreibt solche Bücher?
Die Antwort kann vielleicht so ausfallen: Bolaño wird 1953 in Chile geboren. Seine Mutter arbeitet als Lehrerin, sein Vater verdingt sich als Spediteur und Boxer. Als Bolaño 14 Jahre alt war, reist die Familie nach Mexiko aus. Dort gilt Bolaño als verschroben, weil er jede freie Minute lesend in der öffentlichen Bibliothek verbringt.
Ewas über 20 geht Bolaño zurück nach Chile, reist kreuz und quer durch Lateinamerika und legt sich das zu, was man praktische Reife nennen könnte. Als Freigeist entgeht er nur knapp den Henkern von Pinochet, der sich mittlerweile an die Macht geputscht hat.
Bolaño kehrt zurück nach Mexiko. Dort gründet er die „Infrarealisten“ und formuliert das oben schon erwähnte „Infrarealistische Manifest». Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist die eines Menschen, der sein Handwerk wie kein anderer beherrscht, dessen Erfahrungsschatz, sowohl den literarischen als auch den, den man langläufig Erfahrungen nennt, also Lebenserfahrungen, sein größter Fundus ist. Der intelligent, wissend, protokollierend, niemals langweilend, manchmal schaudernd uns das schenkt, was wir am meisten ersehnen: gute Literatur!

Auch wenn der nächste Urlaub noch nicht in Sicht ist, es sei allen ans Herz gelegt, dieses Buch zu lesen. Es ist Geheimwissen und in diesem Sinne eine Offenbarung. Weiterlesen

Das neue Testament als Magazin

Tja, da lümmelt so ein (Blatt-)Macher irgendwo in einem Hotel herum, langweilt sich ein bisschen und will was lesen. Findet aber nix, außer ’ne Bibel, die da irgendwo rumliegt. Er fängt an zu schmökern und stellt fest, da stehen ja total abgefahrene Geschichten drin. Aber das kann sich ja kein Mensch antun. Alles so klein gedruckt und so gleich gewichtet. Er geht ins Bett und schläft.
Am nächsten Tag unter der Dusche hat er die zündende Idee: Die Bibel als Magazin rausbringen. Mit Kapiteln, Überschriften, Inserts … Gedacht, getan. Jetzt gibt es das Neue Testament als Magazin. Für 9,20 Euro. Manche behaupten, der Sinn würde sich jetzt auf ganz andere, neue Art erschließen. Testet es!

Och nö: Airens I am airen man.

„Die Hölle, so viel steht von Anfang an fest, ist nicht der Absturz, sondern das Mittelmaß.“ Von diesen Sätzen hätten wir gerne mehr, aber leider hat Airens zweiter Roman (nach Strobo) davon nicht allzu viel zu bieten.
Was macht Airen in der Fremde (Mexiko)?
Warum wird aus dem Berghainsumpf nicht so ’ne Kreißsaalgeschichte?
Warum chillig an der Costa Alegre und alles voll von ewig lächelnden Menschen?

… dabei von einem Drogenexess zum anderen Drogensex zu schlittern, macht die Sache nicht spannender. Keine intellektuell durchgestylte Großstadtmoviedrogenromanscheiße. Schade.

Ach ja, eins vielleicht noch: für Maschinenbaustudenten im fünften Semester mit Angst vor der totalen Spießigkeit dennoch eine echte Lese- und Lebensempfehlung. Prost!

Helene Hegemann: Axolotl Roadkiller oder Ich bin viele

Axolotl Roadkiller CoverAntonia sagt, das geht ihr auf den Keks, dieser ganze Hegemann-Hype. Diese jahrelangen Threads auf Facebook, diese Neider, die bereuen, dieses Buch nicht selbst geschrieben zu haben, dieser ganze Berlin-Sumpf, in dem keiner keinem etwas gönnt. Deshalb machen wir das hier mal anders, wir kommen ja auch nicht aus Berlin, und hier in Hamburg gönnen wir der Hegemann das ganze Programm. Wir danken ihr für das Lesevergnügen und finden es überhaupt nicht schlimm, dass sie sich bedient hat, bei anderen, und wir verstehen auch nicht, warum sie das so anders machen sollte, denn irgendwie sind wir es gewöhnt, dass alle immer von anderen abschreiben.

Ich erinnere mich an dieser Stelle an meinen alten Filmprof Hickethier, der einmal sagte, dass er das Zappen durch die verschiedenen Programme der deutschen Fernsehlandschaft liebe, weil sich durch diese filmischen Versatzstücke eine eigene Erzählung ergäbe. Nicht anders verhält es sich mit Axolotl Roadkiller. Nur dass die Versatzstücke keine filmischen sind, sondern literarische (zugegeben, darüber streitet sich das Feuilleton noch) Bloggerschnipsel. Und Hegemanns Verdienst ist es, diese gefunden, mit eigenen gemischt und zusammengefügt zu haben. Das Verdienst der Auswahl und der Verbindung! Und das hat sie mit Bravour gemeistert. Finden wir hier jedenfalls, in Hamburg …

Eine zweite Sache fällt mir dazu ein: Es hat auch mit Filmwissenschaft zu tun. Ich fühle mich plötzlich zurückversetzt in den kleinen miefigen Vorführraum des Medieninstituts am Grindelberg. Es gab Seminare wie „Der postmoderne Film“ oder das Frauenbild in David Lynchs „Wild at heart“ (haha). Da saßen dann die angehenden Filmwissenschaftler und haben nach Filmzitaten (so nannte man das) gesucht, was nichts anderes bedeutete als die Frage: Wo zitiert der Film andere Filme. Von Plagiat oder Missachtung des Copyrights war da nie die Rede. Nein, DAS WAR KUNST!

Und deshalb finden wir hier in Hamburg, es ist jetzt genug. Fangt endlich an, über das Buch zu reden, das wir hier brilliant finden und das wir jedem ans Herz legen möchten.

Worum es in Axolotl (ein mexikanischer Schwanzlurch) Roadkill (angefahrenes Tier) geht?
Miefti, Schulverweigerin und Halbweise sagt es selbst: „Ich bin sechszehn Jahre alt und momentan zu nichts anderem mehr in der Lage, als mich trotz kolossaler Erschöpfung in Zusammenhängen etablieren zu wollen, die nichts mit der Gesellschaft zu tun haben, in der ich zur Schule gehe und depressiv bin. Ich bin in Berlin. Es geht um meine Wahnvorstellungen.“

Ein Wort noch: Lesen!

20 Jahre Mauerfall. Mit diesen Büchern feier‘ ich (II)

Das andere Buch, mit dem ich 20 Jahre Mauerfall feiere und gewissermaßen Erinnerungsarbeit leiste, heißt OSTZEIT. Drauf gestoßen bin ich nicht etwa, weil ich die gleichnamige Fotoschau in Berlin  im Haus der Kulturen gesehen habe, sondern weil ich im SPIEGEL eine Randnotiz entdeckte, oder sagen wir besser, ein „Randfoto“. Übrigens eins der schönsten Fotos des Buches (Katalog: Hatje Cantz Verlag, 39,80 Euro.),

und zwar dieses hier:
 1976, Berlin-Mitte, Auguststraße, Clärchens Ballhaus (Foto: Sibylle Bergemann)

„In insgesamt 13 Blöcken werden Ar­beiten von Ute Mahler, Werner Mahler, Sibylle Bergemann und Harald Hauswald – nach der Wende allesamt Mitbegrün­der der Fotoagentur „Ostkreuz“ – gezeigt, darunter auch Bergemanns Reportage über das wilde Treiben in „Clärchens Ballhaus“ in der Auguststraße oder Harald Hauswalds Szenen aus dem Leben der DDR-Boheme.“

Kurze Zeit nachdem ich das Buch geschenkt bekam, starb Roger Melis, nämlich am 11. September 2009. Er ist der so genannte „Sybille-Fotograf“ des Ostens und hat eng mit o. g. Fotografen zusammen gearbeitet. Zuletzt erschien dieser Fotoband von ihm:
RMelis_In einem stillen Land.  Ich habe es bestellt. Es ist das dritte Buch, mit dem ich und der Mauerfall Geburtstag feiern. Natürlich halte ich euch auf dem Laufenden, ob’s was ist oder nicht, aber eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, dass es was ist, mehr noch als OSTZEIT, glaube ich … Ihr hört von mir.